Toms Schlussgedanken

Mittwoch, 22. November 2023



_______________________________________________________

 

am 04.12.2023

 

Vom Schnee

Erinnern Sie sich noch an den ersten Schneefall in einem Spätherbst oder Winter Ihrer Kindheit? Es war der Einbruch einer anderen Realität. Etwas Scheues, Seltenes, das uns besuchen kommt, das sich herabsenkt und die Welt um uns herum verwandelt, ohne unser Zutun, als unerwartetes Geschenk. Der Schnee ist geradezu die Reinform einer Manifestation des Unverfügbaren: Wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Und mehr noch: Wir können des Schnees nicht habhaft werden, ihn uns aneignen: Wenn wir ihn in die Hand nehmen, zerrinnt er uns zwischen den Fingern, wenn wir ihn ins Haus holen, fliesst er davon, und wenn wir ihn in die Tiefkühltruhe packen, hört er auf Schnee zu sein. Vielleicht sehnen sich deshalb so viele Menschen – nicht nur Kinder – nach ihm, vor allem vor Weihnachten. Viele Wochen im Voraus werden die Meteorologen bestürmt und bekniet: Wird es dieses Jahr weiss? Wie stehen die Chancen? Und natürlich fehlt es nicht an Versuchen, Schnee verfügbar zu machen. In unserem Verhältnis zum Schnee spiegelt sich das Drama des modernen Weltverhältnisses wie in einer Kristallkugel: Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.

 

Hartmut Rosa

 _______________________________________________________

 

am 13.11.2023

 

Gebet um Weite

Bitte! Weite mein Herz.

In diesen Wochen feiern wir Sankt Martin.

Geboren in Ungarn, aufgewachsen in Italien, gestorben in Frankreich.

Ein Soldat, der seinen mit Schaffell gefütterten Reitmantel teilte

mit einem armen, fierenden Mann.

Den heiligen Nikolaus, ein türkischer Bischof,

bekannt für viele Wunder der Liebe.

Wir feiern Jesus, einen Wanderprediger, Jude aus Palästina.

Geboren im besetzten Gebiet, Messias des Friedens.

Dazu ein paar jüdische Hirtinnen und Hirten. Die Kleinen ihrer Zeit.

Und arabische Sterndeuter, Perser, drei magisch angezogene Früh-Esoteriker.

Vielleicht aus Babylon, heute Irak, nahe Bagdad, aus dem Jemen oder Armenien,

dem Bergland zwischen Aserbaidschan, Iran und Türkei.

Weite mein Herz.

Halte mich irrtumsfähig, neugierig und respektvoll.

Lass mich lernen und verlernen, was nötig ist.

Weite mein Herz.

Dass ich meine Grenzen sehe, aber nicht verteidige.

Dass die Türen offen stehen und ich mich verschenken kann.

Bitte! Weite mein Herz.


Christina Brudereck

_____________________________________________________

 

am 06.11.2023

 

Ans Licht kommen

Klagen ist leichter als loben. Besser gesagt: schwermütig stumm zu bleiben, ist leichter als loben. Es gehört keine große Kunst dazu. Im Gegenteil: Es gibt eine seufzende Genüsslichkeit und genüssliche Seufzer.

Klagen ist leichter. Man braucht ja nur am Leben abzulesen, was ihm getan wird. Das Lob ist nicht so einfach, denn man muss es auch in die Dinge hineinlesen. Man lobt nicht von allein. Es kann jemand die Wolken dahinjagen sehen, den Wind spüren und die Fische im Wasser spielen sehen und sie nicht sehen, sich nicht darüber wundern und trübe bleiben.

Das Herz kann offensichtlich auch träge sein, der Mensch kann in sich verschlossen sein, dass er Schönheit, Ganzheit und Lebensgelingen nicht wahrnimmt.

Darum sagt die Seele sich selber: „Geh aus, hocke nicht in dir selber herum, sieh von dir ab und von allem, was dich bannt! Werde fähig, die Berge und die Fluten zu sehen, Werde fähig, den Wind nicht nur als Geräusch zu hören, sondern als Stimme!“ Wir sind manchmal auch etwas lächerlich in unserer oft gegenstandslosen Lebenstrauer und Lebensklage, wie Maulwürfe, die das Licht nicht sehen und sich eigentlich nur im Dunkeln zu Hause fühlen.

 

Fulbert Steffensky

_______________________________________________________

 

am 23.10.2023

 

 Vater, willst DU, so nimm diesen Kelch von mir;

Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!

Lukas 22,42

 

Zu oft haben Menschen behauptet, deinen Willen zu kennen. Und dann sind sie in den Krieg gezogen. Haben Frauen verbrannt, die sie Hexen nannten. Haben anderen ihre Liebe verboten. Zu oft haben Menschen Ungerechtigkeit gerechtfertigt mit dem Hinweis, dass du es so willst. Zu oft haben Menschen deinen Willen für ihren Hass benutzt. Wenn du einen Willen hast, dann wurde er tausendfach missbraucht. Was will ein Baum? Was will ein Grashalm? Was will die Liebe das Licht, der Himmel?

Was willst du?

Wenn du einen Willen hast, dann glaube ich: Du willst nie, niemals nie einen Menschen kleinmachen. Lass dir nicht einreden, dass du so bist. Es gibt viel Leid auf dieser Welt. Das meiste davon ist menschengemacht. Ich glaube, Jesu Schrei am Kreuz ist dein Schrei: Widersteht, wenn Sündenböcke gesucht werden. Erhebt Einspruch, wenn Gerüchte gestreut werden. Streut Vertrauen wie Blumen, wo immer es geht. Du richtest jeden geknickten Halm auf. Wir können deine Menschen sein, die dir dabei helfen.

 

Susanne Niemeyer

____________________________________________

 

am 25.09.2023

 

Falscher Verdacht

 

Ein Mensch hat meist den übermächtigen

Naturdrang, andre zu verdächtigen.

Die Aktenmappe ist verlegt.

Er sucht sie, kopflos und erregt,

Und schwört bereits, sie sei gestohlen,

Und will die Polizei schon holen

Und weiss von nun an überhaupt,

Dass alle Welt nur stiehlt und raubt.

Und sicher ists der Herr gewesen,

Der, während scheinbar er gelesen –

Er ahnt genau, wie es geschah…

Die Mappe? Ei, da liegt sie ja!

Der ganze Aufwand war entbehrlich

Und alle Welt wird wieder ehrlich.

Doch den vermeintlich frechen Dieb

Gewinnt der Mensch nie mehr ganz lieb,

Weil der die Mappe, angenommen,

Sie wäre wirklich weggekommen –

Und darauf wagt er jede Wette –

Gestohlen würde haben hätte!

 

Eugen Roth

_____________________________________________________

 

am 18.09.2023

 

Im Leben lesen

Jeder Mensch hat Vorurteile. Das ist normal. Aber pflegen muss man sie nicht. Reden hilft. Am besten mit Menschen, die ganz anders sind. Einfach mal fragen, neugierig und mit Respekt: Wie fühlt sich dein Leben an? Was bedeuten dir die Tattoos in deinem Gesicht? Wann wusstest du, dass du ein Mann im Körper einer Frau bist? Was wünschst du dir von der Gesellschaft?

In der „Human Library“ kann man das.

Dort gibt es keine Bücher, sondern Menschen. Die darf man „ausleihen“. 30 Minuten fragen und miteinander reden, in einem anderen Leben lesen. Vor über 20 Jahren wurde das Projekt in Kopenhagen gegründet, und seitdem hat es Ableger in der ganzen Welt: in Schulen, Büchereien, Firmen oder auf Festivals. Der Slogan der menschlichen Bibliothek ist: „Unjudge someone“ (etwa: enturteile jemanden). „Wir bringen Menschen zusammen, die glauben, dass sie einander nicht mögen“, sagt Gründer Ronni Abergel. „Und dann reden sie miteinander und lernen etwas. Machen den Versuch, einen anderen Menschen zu verstehen, ohne sie oder er sein zu wollen. Denn in jedem versteckt sich ein großartiges Buch und die meisten von uns sind potenzielle Bestseller.“

 

Susanne Niemeyer

_____________________________________________________

 

Juni 2023

 

Wir lieben es, gebraucht zu werden, obwohl wir es eigentlich brauchen, geliebt zu werden.

 

Hans-Joachim Eckstein

_____________________________________________________

 

am 08.05.2023

von Andreas gedacht

 

SINGEN! –

Mit Herz und Mund, / aus voller Kehle, und aus tiefster Seele

In den höchsten Tönen loben / Den allerhöchst Barmherzigen dort oben

und mitten unter uns.

Wenn Liebe dir begegnet, ein Mensch den andern segnet.

Dann sing! - Mit Herz und Mund.

 

Denn wem das Herz voll ist, / dem läuft der Mund über.

Zu jeder Zeit auf ihre Weise / Gehen Lieder auf die Reise.

 

Von den Sängern im Alten Israel

Bis nach Graceland in Memphis Tennessee

Von David bis zu Paul, dem Gerhardt und McCartney,

von Leipzig bis nach Liverpool.

Fröhlich soll mein Herze springen. / Denn all You need is Love.

 

SINGEN! – Mit Herz und Mund,

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,

fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir

We shall overcome.

 

Unisono summen: Amazing Grace (eine Strophe)

 

Du meine Seele singe,

de tout mon coeur

Dona nobis pacem

Amazing Grace

 

SINGEN! –

Mit Herz und Mund, Die alten und die neuen Lieder.

Denn wo man singt, (… da lass dich ruhig nieder.)

Hör deine Herzenstöne wieder,

wenn unter uns ein Lied erklingt.

Das Hoffnung, Trost und Freude bringt.

 

 Martin Buchholz

_______________________________________________________

 

April 2023

 

Wieder Wolken am Himmel, ich freue mich über einen Tag mit Charakter. Wolken fordern zur Vorausschau auf, sie werfen Fragen auf – und sei es nur die Fragen nach Kleidung und Schirm. Sie sind das Signal, dass wir nicht im Paradies leben, sondern es besser haben: dass wir unser Leben verantwortlich gestalten dürfen, von Tag zu Tag. Ein Leben, in dem Entscheidungen zu treffen sind, Folgen überlegt werden müssen und in das man trotzdem mit Zuversicht und Urvertrauen hineingehen kann. Wolken schützen uns vor Langeweile, vor schaler Idylle. Wo Wasserdunst am Himmel wabert, kommen die Dinge auf gute Weise in die Schwebe, wird Leben echt.

Christian Sauer

_______________________________________________________

 

am 27.03.2023

Teil 2 zu was Kirche für mich sein soll:

 

2. Kirche als `Unperfekthaus`.

 

Ein Rabbi erzählt von einem jungen jüdischen Anwalt, der nach New York zieht.

Endlich besuchen ihn seine Eltern. Er zeigt ihnen sein großes Büro. Sie sind begeistert und

stolz auf ihn. Er zeigt ihnen seine schicke Wohnung. Sie freuen sich sehr. Er führt sie aus in

ein edles Lieblingsrestaurant. Sie genießen es. Er zeigt ihnen die Synagoge, die er besucht.

Sie werden plötzlich ganz still. Er schwärmt: „Wie modern alles ist. Wie neu. Wie edel. Und

guckt doch nur: Die Leuchter! Das Pult. Die Wandgemälde. Die Teppiche. Alles vom

Feinsten.“ Er sieht sie fragend an: „Was ist denn? Warum sagt ihr denn nichts?“

Und der Vater fragt vorsichtig: Kann man hier auch weinen?“

 

Können wir in dieser Kirche weinen? Unsern Frust zugeben? Über Enttäuschungen

sprechen, über unsere unerhörten Gebete? Über unsere eigenen Fehler und

Versäumnisse? Über unsere Verletzlichkeit? Unsere Verzweiflung? Über unseren Kummer?

Über Scheitern? Wie auch über Erfolge?

Wie können wir das leben in einer individualisierten Gesellschaft.

Finden wir Wege, uns zuzumuten mit unserem Glück und unserm Unglück. Für mich hat

Kirche, haben Gemeinschaft und Gemeinde nur einen Wert als `Unperfekthaus`.

 

Gnadenlos kann unsere Zeit sein. Erbarmungslos unsere Gesellschaft.

Gottvertrauen rückt die Gnade beharrlich in die Mitte.

Kirche mitten in unserer Welt als Ort der gelebten Nachsicht und Güte. Wo wir im Alten das

Neue suchen.

Als Gegenentwurf.

Wir werden einander nur gerecht, wo wir gnädig sind.

 

_______________________________________________________


am 20.03.2023


Wir stehen am Anfang der Gospelkirche Stuttgart.

Ich habe zwei Begriffe gefunden beim Stöbern in einem Buch von Christina Brudereck.

Für mich passen die beide gut und beschreiben viel von dem, was Kirche für mich sein soll (Teil 1): 

 

1. Kirche als `Wünschehaus`.

Ein Haus mit einem weiten Dach

für unsere allergrößten Wünsche.

Die Bibel ist vielleicht ihre kluge Hausmeisterin.

Die wohl längst nicht alles duldet,

uns aber immer wieder in die Freiheit ruft.

Das Haus hat Zeit für unsere Sehnsucht.

Und bietet Platz für alle Hoffnungen.

 

Gebet:

Kirche muss in Weite führen und Zeit haben für unsere Sehnsüchte -

Jesus, Du als Gastgeber dieses Hauses, ermutigst uns, magst uns leuchten sehn.

Du bist es, der in uns Sehnsucht weckt und gleichzeitig versprichst, sie zu stillen,

lass dies ein Ort sein und bleiben, wo unsere Hoffnungen immer einen Platz haben.

Wir laden Dich ein in unser Singen, in unser Hören und in unser Tun.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Amen.